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Die Messbarkeit zu finden ist schwierig

Jürg Saager, Stadtarchitekt und Leiter Hochbau Stadt Biel, erklärt wieso mit dem revidierten Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen ein Paradigmenwechsel bei der Submission erfolgt und was das für die neue Vergabekultur bedeutet.
Jürg Saager

Die neue Vergabekultur

Seit dem 1. Januar 2021 ist das totalrevidierte Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen in Kraft. Anstelle des «wirtschaftlich günstigsten» soll neu das «vorteilhafteste» Angebot berücksichtigt werden. Das bedeutet ein Sinneswandel weg vom Preis- zum Qualitätswettbewerb – und eine Chance für Schweizer Bau­produkte mit einheimischen Rohstoffen. Der Vollzug wirft allerdings noch Fragen auf. Bei der neuen Vergabekultur soll die Matrix der Nachhaltigkeit auf wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Ebene gelten. Auch Qualität und Ästhetik werden Zuschlagskriterien, und dass im Ausland Lohn- und Preisniveau in der Regel tiefer sind, soll bei der Beurteilung des Preises berücksichtigt werden.

Das revidierte Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen sei ein Paradigmenwechsel. Wieso?

Jürg Saager: Neu wird nicht mehr der Preis das ausschlaggebende Element sein, ­sondern Nachhaltigkeits- und Qualitätskriterien werden eine hohe Gewichtung erlangen. Bis jetzt waren wir zurückhaltend beim ­Öffnen des Kriterienkatalogs. Jetzt müssen wir uns noch konkreter mit Themen wie ­Nachhaltigkeit auseinandersetzen.

«Aus der Region für die Region» klappt bei den Detailhändlern schon gut mit dem Gemüse. Soll dieser Ansatz nun auch für Bauprodukte relevant werden?

Bei der neuen Vergabekultur steht die Nachhaltigkeit im Zentrum, weniger die ­Berücksichtigung des lokalen Gewerbes. Vor der flächendeckenden Einführung des öffentlichen Beschaffungsrechts hatten wir viel mehr Spielraum, «Heimatschutz» zu betreiben. Mit der Einführung des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen von 1994 wurde dem einen Riegel geschoben. Das Ziel dabei war, wirklich einen Wettbewerb entstehen zu lassen. Mit den neuen Zuschlags­kriterien müsste es tendenziell zu einer ­Verlagerung hin zu lokalen Firmen kommen.

Es gilt die Matrix der Nachhaltigkeit. Sprechen wir von der Ökologie: ­Werden kurze Transportwege in Zukunft zum ausschlaggebenden Kriterium?

Nein, das glaube ich nicht. Es ist ein ganzer Strauss an Nachhaltigkeitskriterien. Die Frage ist, mit welchem Gewicht diese zukünftig bewertet werden. Wenn Sie identische Produkte und Dienstleistungen im Angebot haben, kann der Transportweg natürlich zum entscheidenden Kriterium werden.

Läuft man mit der neuen Vergabekultur Gefahr, ortsfremde Anbieter zu diskriminieren?

Es wäre ein Gebot der Nachhaltigkeit, ­naheliegende Anbieter zu berücksichtigen. Das reguliert sich aber auch über den Transportpreis. Wenn ein Berner Gipser für einen Auftrag in Biel den günstigeren Preis ­anbietet als ein Tessiner, hat das vermutlich auch mit dem kürzeren Weg zu tun.

Weiter gibt es auch die soziale Nachhaltigkeit, also Arbeitssicherheit, Engagement für Lernende, Fair Trade. Könnte dies wiederum für die Schweiz von Vorteil sein?

Ja, auf jeden Fall. Wir verlangen von den Firmen einen Nachweis, dass der Gesamtarbeitsvertrag eingehalten und ein bestimmtes­ Minium an Löhnen bezahlt wird. Die Versicherung der Arbeitnehmenden ist zwingend, das gilt sogar für allfällige Subunternehmer. Das Ausbilden von Lernenden ist seit Jahren ein Kriterium, das wir berücksichtigen. Es ist eine soziale Verantwortung, Nachwuchs auszubilden. So werden auch Entwicklung und Innovation gefördert, indem man Erkenntnisse und Wissen an nächste Generationen weitergibt.

Was bedeutet es für Schweizer ­Firmen, dass die Lebenszykluskosten ebenfalls neu berücksichtigt werden?

Schweizer Firmen bieten häufig eine hohe Qualität, und das hat Einfluss auf die Lebenszykluskosten. Allerdings stellen wir uns mit der starken Regulierung selber ein Bein. Durch Vorschriftenfluten und Auflagen bezüglich Brandschutz, Behindertengerechtigkeit, ­Erdbebenertüchtigung – und die Aufzählung ist bei Weitem nicht abschliessend -, kosten bei uns Neubauten und Sanierungen deutlich mehr als in unseren Nachbarländern.

Welche Rolle wird die Ästhetik für die Vergabe spielen?

Das hängt stark von den Ansprüchen des Auftragstellers ab. Die Stadt Biel baut konventionell, wir stellen hohe Ansprüche an ­städtebauliche und architektonische Qualität. Der Einfluss von Seiten Dienstleister auf die Ästhetik ist dabei sehr klein. Wir geben ­beispielsweise vor, wie eine Fassade im Detail aussehen soll. Das sieht wieder anders aus, wenn ein ­Totalunternehmen eine Submission macht. ­

Wird eine Schweizer Firma mit der neuen Vergabekultur für Innovation belohnt?

Langfristig zahlt sich Innovation sicherlich aus, weil sich mehr Nachhaltigkeit irgendwann im Preis niederschlägt. Für den Auftragsteller ist nicht entscheidend, wie innovativ ein Produkt ist, sondern zum Beispiel, ob es schneller verfügbar ist als andere, nachhaltiger oder wirtschaftlicher. Wir dürfen auch mit dem neuen Gesetz keine Marke bestellen.

Wie stark wird denn nun in Zukunft der Preis gewichtet werden? ­Die Rechtsprechung sieht heute eine Gewichtung mit Minimum ­20 Prozent vor. Wird sich diese Regel halten?

Es wird sicher nicht weniger, wir haben den Preis bislang immer deutlich höher gewertet. Es kommt darauf an, um welches Gebiet es sich handelt. Wenn wir Architekturleistungen vergeben, hat der Preis ein tiefes Gewicht, bei Bauleistungen ein höheres.

Apropos «Verlässlichkeit des ­Preises». Sind die Preise einer ­Offerte wirklich so verlässlich?

Wenn die Submission präzise gemacht wurde, dann selbstverständlich. Natürlich ist man auf gute Submissionunterlagen angewiesen und muss an alles denken. Sonst sieht man sich regelmässig mit Nachforderungen konfrontiert.

Ab welcher Summe muss die ­Vergabe öffentlich sein?

Im Bauhauptgewerbe ab 500 000 Franken, im Baunebengewerbe ab 250 000. So handhabt das der Bund. Die Kantone sind nun gefordert, über die interkantonale Vereinbarung nach­zurüsten. Ich werde mich klar dafür einsetzen, dass wir in unserer Submissionsverordnung diese Schwellenwerte übernehmen. Wir haben immer wieder subventionierte Aufträge, vor allem im Tiefbau, manchmal vom Kanton, manchmal vom Bund. Wenn wir hier unterschiedliche Schwellenwerte hätten, würde das zu einer Verunsicherung bei den Anbietern führen, denn sie wüssten nie, unter welchem Regime sie gerade anbieten.

Es war ein erklärtes Ziel des mehr­jährigen Revisionsprozesses, die Beschaffungsordnungen von Bund und Kantonen zu harmonisieren. Denken Sie, dass die Kantone mit der Revision der Interkantonalen Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen (IVöB) ­nachziehen werden?

Ich gehe davon aus, dass die Vorgabe des Bundes übernommen werden wird. Im Moment haben sich bereits mehrere Kantone klar zum Beitritt zur Interkantonalen Vereinbarung ­bekannt.

Hand aufs Herz: Wie wichtig wird der «günstige» Preis bleiben?

Da kommen wir zum Problem der Messbarkeit, der grosse «Pferdefuss» in der Um­setzung. Wie bewertet man die neuen Kriterien, damit sie möglichst messbar und fair sind? Es geht um die Sicherheit des Verfahrens. Wenn wir Kriterien hoch gewichten, die schlecht messbar sind, und das nicht stichhaltig ­begründen können, sind Tür und Tor offen für Beschwerden. Hier muss man arbiträr ­etwas festlegen. Diesen Massstab kann man erfinden, und das werden wir auch.

Und wie könnte man die Messbarkeit herstellen?

Das ist wie Kaffeesatzlesen im Moment, solche Abläufe müssen sich erst noch entwickeln. Klar ist, dass es sehr stark vom einzelnen Fall abhängen wird. Einige Gemeinden und Städte werden unfreiwillig in die ­Bresche springen müssen, damit sich aus Beschwerdeverfahren durch Gerichtsentscheide schliesslich eine Praxis entwickelt. In der Vergan­genheit war ich in der Regel jeweils beruhigt, wenn dasjenige Angebot die höchste Punktzahl und damit den Zuschlag bekam, welches gleichzeitig auch den günstigsten Preis angeboten hat.

Kriterien der Vergabekultur


Worauf gilt es nun besonders zu achten bei der Formulierung der Zuschlagkriterien?

Auf die Messbarkeit. Die Gewichtung muss fair bleiben! Bei standardisierten Projekten dürfte die Gewichtung stark in Richtung Preise ausschlagen. Wir müssen uns überlegen, welche Nachhaltigkeitskriterien fallweise die richtigen sind. Eine Formel übers Knie zu ­brechen, ist nicht möglich, weil die Fälle zu unterschiedlich sind.

Ist in der Praxis die neue Vergabe noch eine Baustelle?

Ja, obwohl ich es gerne anders formulieren würde. Es fehlen noch die Erfahrung und die Rechtssprechung. Als öffentliche Auftraggeber müssen wir uns intensiv mit den Neuerungen auseinandersetzen und gut überlegen, wie wir damit umgehen. Die ­Unsicherheit ist derzeit noch gross. Das ist auch ein politischer Prozess. Wir müssen uns so schnell wie möglich wappnen auf ­diese ­neuen Herausforderungen. Das wird mit ­erheblichem, planungsseitigem Mehraufwand ­verbunden sein.

«Unsere Basis ist ein heimischer Rohstoff, und mit unseren steten Investitionen in Forschung ­und Entwicklung sorgen wir dafür, dass wir immer effizienter werden. Wir sind gut aufgestellt, was die ­erweiterten ­Zuschlagskriterien betrifft. Grosse Erwartungen hegen wir in die Berück­sichtigung des unterschiedlichen Lohn- und Preisniveaus im Ausland. Wir hoffen, dass diesbezüglich in Zukunft bei der Vergabe mit gleichen Ellen gemessen wird.»

Urban Müller, Verwaltungsratspräsident der MÜLLER-STEINAG Gruppe